Tagung 2009

Auch in diesem Jahr hatten wir das Glück, unsere Tagung bei bestem Herbstwetter durchführen zu können. Die annähernd 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten intensiv über aktuelle mathematikdidaktische Themen und über die Forschungsvorhaben von Herrn Juskowiak, Frau Lange, Frau Lindmeier und Herrn Wagner. Diese Diskussionen wurden von den Vortragenden durchweg als bereichernd für den weiteren Forschungsprozess empfunden.
Wir bedanken uns an dieser Stelle nochmals für die interessanten Vorträge.

Steffen Juskowiak - TU Braunschweig

Zur Erkundung selbstreflektorischer Aktivitäten beim Bearbeiten mathematischer Probleme

Probleme lösen zu lernen gilt seit längerem als ein wichtiges und weithin anerkanntes Ziel von Mathematikunterricht. In der einschlägigen Literatur findet man verschiedene Maßnahmen und Methoden aufgeführt, die zur Fortentwicklung der Problemlösefähigkeit beitragen können. Zu ihnen zählt auch Selbstreflexion, also das Nachdenken des Problembearbeiters über sein Getanes.
Dieses Nachdenken kann an verschiedenen Stellen eines Denkablaufs vorkommen. In mathematikdidaktischen Arbeiten und Unternehmungen hat man sich bislang insbesondere mit Selbstreflexion nach dem Vorliegen einer Lösung befasst, man denke z.B. an die Problemlösephase "Rückblick" im Modell von Polya. Weniger beachtet und untersucht sind in diesem Rahmen hingegen Selbstreflexionsphänomene bei noch nicht erreichtem Ziel, also während des Suchens nach einer Lösung. Literaturanalysen machen deutlich, dass unser Wissen in diesem Bereich noch sehr lückenhaft ausfällt.
Wenn es aber gelingt, mehr Details darüber in Erfahrung zu bringen, kann dies einem besseren Verständnis von Problemlösen und Problemlösefähigkeit dienlich sein und möglicherweise Anknüpfungspunkte für eine gezielte didaktische Einflussnahme zur Förderung der Problemlösefähigkeit liefern.
In meinem sich in der Anfangsphase befindlichen Forschungs- und Qualifizierungsvorhaben geht es entsprechend um Anreicherung unseres Wissens über derartige Selbstreflexionsmomente und -vorgänge beim Bearbeiten mathematischer Probleme. Dazu soll mit älteren Lernenden aus dem Sekundarstufenbereich eine qualitativ ausgerichtete empirische Erkundungsstudie durchgeführt werden, mit deren Hilfe solche selbstreflektorischen Aktivitäten identifiziert und hinsichtlich bestimmter Kriterien charakterisiert und bewertet werden sollen. Dafür wurde ein methodisches Vorgehen entwickelt, das bereits in einer Vorstudie mit Lehramtstudierenden seine Erprobung fand.
Im Vortrag wurden ausgehend von Befunden aus der Literatur Ziel und Methodologie meines Forschungs- und Qualifizierungsvorhabens näher erläutert und Befunde aus der Vorstudie vorgestellt.
In der Diskussion während bzw. nach dem Vortrag hat sich gezeigt, dass das Promotionsvorhaben in der geplanten Form durchführbar ist, jedoch bedingt durch die gewählte Untersuchungsmethode erheblichen Auswertungsaufwand mit sich bringen wird. Unabhängig davon wurde der von mir entwickelte Arbeitsbegriff sowie das Kategoriesystem zur Bewertung bzw. Charakterisierung von Selbstreflexionsszenen als guter Ausgangspunkt zur genauen Untersuchung des Phänomens der Selbstreflexion auch hinsichtlich möglicher späterer didaktischer Einflussnahmen bewertet.

Diemut Lange - Universität Hannover

Studie zur Interaktion verschieden begabter Fünftklässler

Interaktionsstudien, die dem Prozess-Produkt-Paradigma folgen, versuchen zwischen Interaktionsprozessmaßen und Produktmaßen (Gruppenergebnis; Lernzuwachs etc.) Zusammenhänge herzustellen. Inwiefern die untersuchten Prozessmaße geeignete Indikatoren für die Produktmaße darstellen, bleibt jedoch unklar.
Im Rahmen der Promotion wurden in einer ersten explorativen, hypothesengenerierenden Studie zum Interaktionsverhalten Paare verschieden begabter Fünftklässler Hannoveraner Gymnasien beim Lösen unterschiedlicher mathematischer Probleme beobachtet. Hierbei gewonnene Erkenntnisse zum Interaktionsverhalten und zur Untersuchungs- sowie Auswertungsmethodik wurden vor- und zur Diskussion gestellt.
Die sehr anregende Diskussion bestätigte die Relevanz der Forschungsfragen und ermutigte, begründete Hypothesen über das Zustandekommen von Produktmaßen wie dem Paarergebnis bei Problemlöseaufgaben aufzustellen. Auswertungsmethodisch bietet sich zunächst einmal die Rekonstruktion der Interaktions- und Problemlöseprozesse und daraufhin die Charakterisierung "relevanter" Stellen im Prozess an.

Anke Lindmeier - LMU München

Modellierung und Messung fachspezifischer Wissens- und Kompetenzkomponenten von Lehrkräften

Im Vortrag wird ein dreigliedriges fachspezifisches Modell professionellen Wissens und professioneller Kompetenzen von Lehrkräften vorgestellt. Dieses verbindet und erweitert bisher gängige Konzepte fachspezifischer Lehrerkompetenzen. Dabei werden neben fachlichem und fachdidaktischem Basiswissen sowohl reflexions-bezogene als auch aktions-bezogene Komponenten beschrieben.
Zur empirischen Überprüfung des Modells erscheinen herkömmliche Paper&Pencil-Aufgabenformate nur bedingt geeignet. Es werden deswegen videobasierte Formate zur Messung dieser Kompetenzkomponenten vorgestellt. So sollen Kompetenzen zur spontanen Nutzung von Basiswissen in lehrbezogenen Situationen näherungsweise erfassbar werden.
Thema des hier berichteten Promotionsprojekts ist die exemplarische Umsetzung der neuentwickelten Formate in einer explorativen Studie mit Mathematiklehrkräften (und Studierenden) für die Sekundarstufe I. Erste Ergebnisse wurden im Vortrag ebenfalls berichtet.
In der Diskussion wurde deutlich, dass durch das Promotionsvorhaben eine neuartige und interessante Perspektive in die Forschung zur Lehrerkognition eingebracht wird, die eine differenziertere Betrachtung der kognitiven Ressourcen von Lehrkräften ermöglicht. In Folgeprojekten könnten z.B. die komplexen Zusammenhänge zwischen Erfahrung von Lehrkräften und aktions-bezogenen sowie reflektiven Kompetenzen untersucht werden. Studien auf breiterer Basis als die vorgestellte Machbarkeitsstudie sind ebenfalls wünschenswert.

Daniel Wagner - IPN Kiel

Mathematische Kompetenz beim Übergang Schule-Hochschule

Übergänge im Bildungssystem stellen markante Bruchstellen im Leben eines Lernenden dar. Dabei nimmt die Aufnahme eines Hochschulstudiums nach der Schulzeit nicht zuletzt aufgrund gravierender Veränderungen des sozialen Umfeldes und der Lernkultur eine Sonderstellung ein. Insbesondere bei Studiengängen mit hohen Mathematikanteilen treten dazu noch häufig große Schwierigkeiten in den mathematischen Kompetenzanforderungen auf, was sich nicht zuletzt in hohen Studienabbruchquoten zeigt. Die wenigen empirischen Studien zu Ursachen für einen Studienabbruch beziehen sich aber weitgehend auf allgemeine Personenmerkmale wie etwa Motivation und Selbstregulation und sind nicht nach Studiengängen differenziert.
Studien zur mathematischen Kompetenz von Studierenden in den ersten Semestern existieren nur für einzelne Teilbereiche der höheren Mathematik. Zur besseren Beschreibung dieser Kompetenz soll dabei die Entwicklung eines Kompetenzstrukturmodells dienen, welches auf der Analyse verschiedener Theorien zum "Advanced Mathematical Thinking" basiert und die gemeinsamen Inhalte der Oberstufe und des ersten Studiensemesters (v.a. im Bereich der Analysis) umfasst.
Zusammen mit dem theoretischen Hintergrund werden im Vortrag Überlegungen zu einem solchen Kompetenzmodell vorgestellt. Darüber hinaus wurde ein Ausblick für dessen Rolle als Grundlage zur Analyse von wesentlichen Unterschieden in den Kompetenzanforderungen beim Mathematiklernen in der Schule und der Hochschule erläutert.

Zunächst stellte die Diskussionsrunde am Ende des Vortrags die Aktualität und Bedeutung des Forschungsfeldes, in welchem sich das Promotionsvorhaben bewegt, positiv heraus. Des Weiteren wurden diverse neue Perspektiven hinsichtlich der Struktur des angestrebten Kompetenzmodells aufgezeigt. Vorrangig ging es dabei um die Frage, wie die im Vortrag dargestellten Unterschiede in den Kompetenzanforderungen zwischen Sekundarstufe II und erstem Studiensemester im Fach Mathematik in die Kompetenzstruktur einzuordnen sind. Dabei wurde deutlich, dass Ursachen für Schwierigkeiten von Studienanfängerinnen und Studienanfängern nicht nur hinsichtlich der individuellen Kompetenz, sondern auch durch die veränderten Bedingungen des Lehrens und Lernens an Hochschulen gegeben sind. Somit sind im Anschluss an dieses Projekt Studien wünschenswert, die diesen Aspekt berücksichtigen.

 

Aufgrund der Rückmeldungen der Vortragenden wird wieder einmal deutlich, wie wichtig der kompetente "Blick von außen" für ein Forschungsvorhaben ist. Daher sind wir froh, auch im Jahr 2010 (vom 08.10. bis zum 09.10.) einen Raum für die Präsentation von neuen interessanten Forschungsprojekten bieten zu können.

-Roland Rink-